HOMESTORYS
Seit um die Mitte des 19. Jahrhunderts die auf allen Ebenen weltverändernde Dynamik des technologischen Fortschritts jedermann anschaulich sicht- und fühlbar geworden war, wurde öffentlich darüber diskutiert, wie zeitgemäßes Wohnen künftig auszusehen habe. Auch wenn es dabei, etwa in den gründerzeitlichen Debatten um das Für und Wider der verschiedenen historischen Dekorationsstile im häuslichen Interieur, vordergründig allein um Geschmacksfragen zu gehen schien, verriet die zunehmende affektive Aufladung der Auseinandersetzungen doch, dass hier in Wahrheit über unterschiedliche und weitgreifende gesellschaftliche Erwartungen an die Lebensführung des Menschen in der Moderne gestritten wurde.
Der Furor, mit dem dieser Streit noch bis Anfang der 1960er Jahre geführt wurde – seinen Kulminationspunkt hatte er mit den polemischen Kontroversen um das Neue Bauen während der späten 1920er Jahre erreicht –, wirkt in der Rückschau befremdlich. Schließlich haben wir uns längst daran gewöhnt, Wohnen vorrangig als Ausdruck individueller Lebensgestaltung und die damit verbundenen Gestaltungsfragen als Geschmacksangelegenheit, sprich: als reine Privatsache zu betrachten. Damit entgeht uns allerdings die entscheidende Pointe der damaligen Kulturkämpfe: Die keineswegs überholte Einsicht nämlich, dass der Akt des Einrichtens immer auch ein bestimmtes Selbst- und Weltverhältnis dokumentiert und damit zumindest implizit Anspruch auf Gemeinverbindlichkeit stellt.
Das Forschungs- und Publikationsprojekt „Homestorys“ soll an einzelnen Beispielen der Frage nachgehen, durch welche diskursiven und bildrhetorischen Mittel sich dieser Anspruch unter unterschiedlichen historischen Rahmenbedingungen jeweils geltend machte, wie die Spannung zwischen der Vorstellung von einem subjektiven, also je eigenen Geschmack und dem Anspruch auf Gemeinverbindlichkeit aufgelöst wurde, und ob bzw. wie diese Diskursgeschichte in der Gegenwart nachwirkt.
In der ersten Fallstudie lässt Christian Demand eine Homestory Revue passieren, die vor wenigen Jahren politisch Furore machte: 2015 empfing Giannis Varoufakis, gerade frisch im Amt als griechischer Finanzminister, zusammen mit seiner Frau ein Team des französischen Celebrity-Journals Paris Match in der gemeinsamen Wohnung in Athen. Keiner der Beteiligten sah voraus, dass die Fotoreportage zum Publicity-Desaster werden würde. Die Gründe dafür reichen weit zurück in die Geschichte der sozialen Normierung des modernen Wohnens.
Der Text erschien im Mai 2020 in der Kulturzeitschrift MERKUR und ist hier als PDF-Datei abrufbar.
„Private-Un-private /Homestorys“ ist ein Projekt der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) im Rahmen einer Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt, dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. und der Pina Bausch Foundation, Teil des HKW-Projekts „Das Neue Alphabet“ und gefördert von der Beauftragten für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war viele Jahre als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunk-Journalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er zunächst als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien, von 2006 bis 2012 war er Professor für Kunstgeschichte an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Seit 2012 ist er Herausgeber des MERKUR, der ältesten monatlich erscheinenden intellektuellen Kulturzeitschrift im deutschsprachigen Raum. Als Essayist widmet er sich unterschiedlichsten kulturphilosophischen Themen. In seinen wissenschaftlichen Monographien, Aufsätzen und Vorträgen hat er sich mit Fragen der Kunstkritik, sowie mit Metafragen der Kunsttheorie und -geschichte auseinandergesetzt.